09.05.2011 -169-

So war ich ziellos durch die Stadt geschlendert, hatte die Vergangenheit nicht gesucht und deshalb auch nicht gefunden, mich in einer Bäckerei mit Kaffee und Sandwich bewirten lassen, stand – als habe mich eine unsichtbare Macht geleitet – auf der Stadtmauer und blickte hinüber auf den spröden Teil St. Malos, wo die Menschen abseits der Geschichte lebten, arbeiteten, liebten, starben. Böiger Wind kam auf, zerzauste mich. Ich stemmte mich dagegen, ging weiter, gelangte auf die Meerseite, auf die Höhe der Grand Bé, das Wasser zog sich langsam zurück, kleinere Felsen schnappten nach Luft. Ich schlüpfe durch die bekannte Maueröffnung und stand wenige Momente später vor meinem Hotel, die wütenden Wasser wie einen Schatz in den Ohren.

Nachdem ich ausgiebig geduscht, meine Sachen ausgepackt und meine Kleidung gewechselt hatte, warf ich den Laptop an und ging online. Eine Mail von Oxana, sie berichtete, Borsig habe sich bei Brüggink vorgestellt und die Chauffeursstelle auf Anhieb erhalten, er sei jetzt ein wenig geknickt, „aber ich richte ihn schon wieder auf, also seelisch-moralisch, ha ha“. Ich schrieb zurück, Borsig solle Anja nach dem Namen des Hotels fragen, in dem Regitz abgestiegen war, das hatte ich nämlich – shame on me – in der all der Aufregung der letzten Tage vollständig vergessen.

Bei Facebook blätterte ich mich durch 137 Informationen meiner „Freunde“, die mich begeistert davon unterrichteten, es sei jetzt möglich, meine „Topstalker“ zu ermitteln. Noch während ich dies staunend las und immer weniger über das Stalkverhalten meiner virtuellen Bekanntschaften wissen wollte, trafen weitere Nachrichten ein, die mich dringend davor warnten, auf einen der den Topstalker-Botschaften angefügten Links zu klicken. Es handele sich dabei um einen „Wurm“, der sich auf meinem Rechner einnisten würde, um von dort aus munter weitere Botschaften über die Topstalker an die Adressen meiner „Freunde“ zu versenden, die dann ihrerseits… Ich konnte mir nicht helfen, aber ich fand das sehr lustig und musste angedeutet lachen.

Eigentlich war das ja alles nicht zum Lachen. Sondern stand als ein läppisches Teilchen für das große Ganze unseres sozialen Netzwerkens, wo sich Dummdreistigkeit unaufhörlich ausbreitete, sobald ein Gehirn es anklickte und für wahrhaftig, nachdenkenswert, erhaben und gut befand. Man denke doch nur an die SPD. Hatte nicht jemand – jemand? – den Wurm des Sozialstalkings in die altehrwürdigen Module dieser morschen Partei (oder sollte man die Adjektive austauschen?) kriechen lassen? „Wow, jetzt kannst du arme Leute triezen und Arbeitslosen bis ins Schlafzimmer nachstalken! Klicke einfach auf den Link ‚Agenda 2010’ und installiere Hartz IV in deinem Parteiprogramm!“ Gesagt, getan. Schon verschickte der wacklige Rechner SPD die absurdesten Meldungen über den Sozialstaat und hörte auch damit nicht auf, als längst viele „Freunde der Sozialdemokratie“ ihre Freundschaft aufgekündigt und SPD „auf Igno“ gesetzt hatten, wie das in der Fachsprache hieß.

Schön, dachte ich mir, so ist das. Aber widmen wir uns nun wieder den erfreulichen Dingen des Lebens, die gerade auf den Namen Vika hörten und sich im Nebenzimmer wohl gerade für das kostenlose Abendessen rüsteten. Es war über all dem nutzlosen Philosophieren Viertel vor Sieben geworden, längst dunkel draußen, ich prüfte noch einmal mein Aussehen im Badezimmerspiegel, fand es annehmbar, fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter ins Foyer, nickte dem Rezeptionisten zu, der, mit Telefonieren beschäftigt, kurz zurücknickte, setzte mich in einen Sessel und wartete und dachte wieder nach, diesmal über Vika und das Abendessen, einen kleinen Flirt oder keinen – nein, mach keinen erotischen Stress, Moritz, spar dir das, genieße den Abend, lass den anstrengenden Tag ausklingen… Oh mein Gott! Hätte ich damals gewusst, was mich erwartete, ich wäre hochgerannt, hätte mein Zeug gepackt, um schleunigst von hier zu verschwinden. Vor mir lag das größte Abenteuer meines bisherigen Lebens und wenn ich jetzt, ein paar Wochen später, daran zurückdenke, verschlägt es mir die Sprache. Also halte ich am besten die Klappe.

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